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Piratenpartei: Ein Parteitag wie die „Grossen“

Am letzten Samstag war ich in Gelsenkirchen beim Landesparteitag der Piratenpartei zu Gast und was ich sah war eine ganz normale Partei. Eine Partei, die vielleicht irgendwann einmal anders sein wollte, sich nun aber bemüht alle Strukturen und Reflexe anderer Parteien nachzuahmen. Dass der Parteitag am Ende laut Schiedsgericht am Ende nicht mehr beschlussfähig war und die danach noch entschiedene Vertagung auf nächsten Sonntag damit hinfällig, zeigt dabei nur, dass alles eben noch nicht so ganz rund läuft.

Was ich also sah, war eine Partei mehr, die in Wahlkampfauftaktreden zunächst einmal eher unsachlich über andere Parteien herzieht. Das mag zwar sehr lustig sein, wie man jedoch auch auf Twitter lesen konnte, waren selbst nicht alle Piraten der Meinung, dass das gut so sei. Wo bleibt plötzlich die Sachlichkeit? Und wie steht man später da, wenn man mit diesen anderen Versagerparteien plötzlich zusammenarbeiten will oder muss? Hier hätte ich mir eine Grundsatzdiskussion gewünscht, die aber nicht kam.

Stattdessen wurde lange Zeit über das Wahlprogramm abgestimmt. Und zwar gleich solange, dass man nicht rechtzeitig fertig wurde und der Parteitag auf den nächsten Sonntag vertagt worden ist. Eine Entscheidung die seitdem für reichlich Diskussion auf der NRW-Mailinglisteauf Blogs (und hier) und per Twitter geführt hat und die inzwischen durch das Schiedsgericht für nicht ganz rechtens erklärt worden ist.

Wofür überhaupt ein Wahlprogramm?

Doch wofür braucht man überhaupt ein Wahlprogramm. Fragt man einzelne Piraten so ist die Antwort „Weil der Bürger Antworten will!“. Doch wie ich schon im September über andere Parteien schrieb: Ist das noch zeitgemäß? Und ist dies die richtige Antwort einer Partei, die doch Bürgerpartizipation als einen ihrer Grundsätze hat?

Schauen wir uns also mal an, was das Problem mit so einem Wahlprogramm ist.

Wahlprogamm statt fundierter Information?

Es gibt immer mehr als eine Lösung für ein Problem. Die Piraten haben zu zensursula-Zeiten mal gesagt, dass sie statt plötzlich im Raum stehender Lösungen doch lieber zunächst eine fundierte Analyse des Ist-Zustandes und dann aller Lösungsmöglichkeiten durchführen wollen (so habe ich es zumindest verstanden). Ist dies hier geschehen? Schaut man sich die Wiki-Seiten der Arbeitskreise an, so scheint die Antwort eher „Nein“ zu lauten. Oder man hat es einfach vergessen aufzubereiten, denn es waren ja schon sachkundige Leute da am Werk. Für mich als Bürger und potentieller Wähler ist aber leider nicht nachvollziehbar, warum nun irgendetwas gut oder schlecht sein soll und wieso gerade die Piraten den Richtigkeitsanspruch gepachtet haben wollen.

Wieso also nicht eine Informationssammlung erstellen. Pro Problem eine Wiki-Seite mit Statistiken, wissenschaftlichen Untersuchungen, einer Liste der wünschenswerten Untersuchungen, also den Dingen, die unklar sind und ausserdem eine Liste mit Lösungsansätzen mitsamt Pro und Contra. Es gab bei der Abstimmung auch Alternativen, zwischen denen gewählt werden konnte, evtl. weil man als Arbeitskreis keinen Konsens finden konnte. Wieso sollte dann aber die Entscheidung des Parteitags da irgendwie besser sein, wenn die meisten gar nicht in dem Thema drin sind?

Schau ich mir z.B. einzelne Punkte an, so könnte ich fragen: „Ist eine Klassengröße von 15 Schülern zu bezahlen? Bzw. wie teuer wird das?“ Genau so passiert auf dem Parteitag. Die Antwort war, dass man sich Gedanken gemacht habe und die demographische Entwicklung dem ausserdem entgegenkommt. Eine Rechnung dazu habe ich aber leider nicht finden können.

Genauso bei der Forderung nach einer Politizisten-ID bei Demonstrationen. Generell ja eine gute Sache, aber wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Was passiert, wenn die Zuordnung ID-Name leakt? Hier gibt es soviele Details, die in einfachen Wahlprogramm-Slogans untergehen oder vielleicht auch noch gar nicht bedacht wurden und wo man später in Argumentationsnotstand kommen könnte.

Kommen nun Nachfragen bei Wahlkampfveranstaltungen, so sollen sogenannte „Arguliner“ helfen, also kurze, prägnante Argumentationslinien, die sich der (anscheinend eher dumme) Bürger merken soll. Ich würde da eher Informationsbroschüren vorschlagen.

zeitlich begrenzte Ausarbeitung

Während ich ja schon überrascht war, wie umfangreich und detailliert die Arbeitskreise das Wahlprogramm ausgearbeitet haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass es nicht noch die ein oder andere abweichende Meinung gab. Man sieht das jetzt schon auf den Mailinglisten und auch beim Parteitag ist manch eine Entscheidung sehr knapp (z.B. zum eingliedrigen Schulsystem) oder gar gegen einen Punkt ausgegangen (z.B. Laptops für alle Schüler). Mehr Zeit für Diskussionen und mehr Hintergrundwissen hätten da vielleicht ein anderes Ergebnis gebracht. Auch haben die Arbeitskreise wahrscheinlich erst jetzt erfahren, wo es mit der Argumentation vielleicht noch hapert. Nur ist es jetzt zumindest für das Wahlprogramm zu spät.

Es gibt zudem noch Punkte, die manch einer im Nachhinein noch gerne im Programm gesehen hätte. Wäre der Parteitag ordnungsgemäß mit einem kompletten Programm beendet worden, hätte es auch dafür keine Chance gegeben. Nur durch das problematische Ende hat man nun vielleicht doch noch die Chance, diese Punkte zu bearbeiten.

keine wirkliche Bürgerpartizipation

So ein Wahlprogramthema wurde von 1-15 Piraten erarbeitet, um dann von max. 250 Piraten abgesegnet zu werden. Dies bedeutet also einen Anteil von unter 12% der Piratenparteimitglieder in NRW. Der Bürger kann dann am 9. Mai nur noch Ja oder Nein dazu sagen. Weiterhin hätten vielleicht 5 teilnehmende Piraten mehr oder weniger schon einen Unterschied in strittigen Fragen ausmachen können. Ist dies dann so richtig demokratisch?

Auf die Frage, wie das denn mit der Bürgerpartizipation sei, antwortete man mir, dass die Arbeitskreise ja offen auch für Nicht-Mitglieder sind und jeder hätte mitarbeiten können. Aber geschehen ist das wohl nicht.

Und ich denke. wenn man als Grundsatz die Bürgerpartizipation wählt, dann sollte man nicht einfach sagen „Selbst schuld!“ sondern sich fragen, warum keiner mitmacht und wie man das ändern könnte. Möglichkeiten wären:

  • einen Aufruf auf die Homepage zu setzen
  • Pressemeldungen darüber zu verfassen (schliesslich klappt das bei den Piraten ja inzwischen deutlich besser)
  • Infostände organisieren und dort Input einholen
  • Veranstaltungen zum Thema machen
  • Live-Streams von Arbeitskreis-Treffen, die zwar teilweise gemacht wurden, öffentlichkeitswirksamer zu platzieren.

Es bleibt natürlich das Problem bestehen, dass man als Nichtmitglied wahrscheinlich nicht abstimmen darf. Auch darüber sollte man mal diskutieren.

Wie anders ist die Piratenpartei?

LPTNRW 2010.1Oder auch „Wie anders will sie sein?“. In der Vergangenheit hörte es sich so an, als wolle man antreten, um die politische Kultur in Deutschland zu verändern. Doch je stärker man wächst und Zeitdruck durch Wahlen hat, desto mehr scheint dieses Ziel erstmal hinten angestellt zu werden.

Unterscheiden will man sich hauptsächlich durch ein breit aufgestelltes Wahlprogramm mit den richtigen Lösungen. Das sieht bei anderen Parteien ja nicht anders aus. Und schon bemängelt man auch die zwar an sich positiven Berichte in der Presse (denn jetzt versteht auch die Presse, was die Piraten sind, jetzt sind sie greifbar geworden, eben wie alle anderen), denn da wird z.B. nur „eingliedriges Schulsystem“ genannt, aber eben nicht die Gedanken dahinter. Wird dies dazu führen, dass man das Wahlprogramm noch weiter „versloganisieren“ muss? Und führen die ganzen Diskussionen nach dem Parteitag dazu, dass es dann eine Parteitagsregie gibt? Ein Schaupiel für die Medien?

Und wieso ist es überhaupt plötzlich so wichtig, sich von anderen Parteien abzugrenzen? Ich dachte, die Themen stehen im Mittelpunkt?

Es scheint ja sogar schon ein Reflex zu sein, an sich sinnvolle Vorschläge der Regierung (die ist per se doof) platt abzukanzeln, so bemängelte Piratenpartei ja jüngst die eigentlich zu begrüssende Enquete-Kommission, da man ja eh schon wisse, dass da nix bei rauskommen kann.

Typische Politikerverhaltensmuster halt, auch zu sehen an Statements, dass man den eigentlich erfolgreichen Wahlkampfauftakt vom Wockenende doch nicht wieder kaputtreden sollte.

Meiner Meinung nach frisst das System sein neues Kind recht schnell. Oder wie Jan-Ulrich Hasecke es auf Twitter ausdrückte:

Hasecke-Zitat

Angesprochen auf die Probleme, die ich sehe, meint z.B. der Spitzenkandidat der Piratenpartei, Nico Kern, dass die Wahl ja nicht warten würde und im Moment eh alle am Anschlag sind. All die Probleme wolle man dann nach der Wahl lösen.

Natürlich sind alle am Anschlag und ich bin auch immer wieder überrascht, was man alles hinbekommt, jedoch frage ich mich, ob das nach der Wahl wirklich besser wird oder ob das nicht die falsche Reihenfolge ist.

Was passiert denn, wenn die Piraten wirklich in den Landtag einziehen? Ist dann Zeit, seine Strukturen und das Selbstverständnis zu diskutieren? Dann fängt es doch erst richtig an. Dann muss man sich in die Themen so richtig einarbeiten, dann muss man überlegen, wie man sich gegenüber den anderen (Versager-)Parteien aufstellt, dann kloppt die Presse so richtig auf einen ein. Ich sehe doch in Aachen im Kleinen schon, wie das ist. Das kostet viel Zeit und ich würde wirklich vorschlagen, erstmal im Kleinen, also in der Kommunalpolitik zu üben.

Und vielleicht sollte man sich auch nicht ganz so ernst nehmen und einfach vieles Ausprobieren? Ohne Experimente werden wir IMHO nicht weiterkommen.

Was tun?

Ich würde der Piratenpartei dringend raten, mal einen Gang herunterzuschalten. 5% hören sich zwar gut an, sind aber doch sehr unwahrscheinlich. Auch ein Wahlprogramme mit schönen Präambeln ist vielleicht schön für andere Parteien aber IMHO sollten die Piraten sich fragen, ob man Bürgerpartizipation und Transparenz nicht komplett in den Vordergrund stellt und nicht als einen Punkt unter vielen auflistet (Transparenz kommt im übrigen gar nicht vor). Wo bleiben die Diskussionen rund um Liquid Democracy? Wäre ein Parteitag nicht ein geeigneter Ort, dies sowohl innerparteilich als auch den Bürgern nochmal vorzustellen?

Denn warum muss auch ein Parteitag wie ein Parteitag aller anderen Parteien ablaufen? Warum nicht lieber mal die Chance nutzen und miteinander reden anstatt 2 Tage lang nur abzustimmen? Der Vorstand, klar, der muss gewählt werden, aber wenn man sich das Programm spart hat man viel Zeit darüber zu reden, was besser laufen könnte.

Man sollte sich fragen: Will man eine Partei unter vielen sein, deren Wahlprogramm ähnlich beliebig ist und die den Bürger dann doch eher aussen vor lässt? Hat man den Mut zum Anderssein, egal was die Presse sagt? Oder kopiert man die Standard-Parteistrukturen, da zuviel Diskussion und Strukturen medial unerwünscht sind? Ist man also klar zum Ändern der politischen Kultur in diesem Land?

Die Überraschung: Ein Barcamp

Das obige schrieb ich gestern und mein Vorschlag wäre gewesen, einen Parteitag als Barcamp zu organisieren. Und hier überraschen die Piraten dann doch plötzlich: Sie machen das!

Und zwar soll anstatt des vertagten Parteitags jetzt daraus ein Barcamp werden. Die Themen sind offen, Schwerpunkt ist sicherlich das Wahlprogramm. Und Schwerpunkt bei einem Barcamp sind vor allem Diskussion und Zusammenarbeit.

Ob das nun das eigentlich am 6./7.2. stattfindende PirateCamp ersetzt oder ob in einer Woche dann noch eines ist (was wohl breiter angelegt sein sollte als nur Wahlprogramm), ist noch unklar.

Wer Interesse an den Piraten hat, sollte aber vielleicht einfach zunächst mal am 31.1.2010 im Wuppertaler Dart-Center vorbeischaun. Hier geht’s zur Wikiseite des Barcamps.

Also schauen wir mal, was die Politik aus den Piraten machen wird. Eine weitere 08/15-Partei oder etwas Neues? Noch glänzt die Piratenpartei in Sachen Transparenz und auch das Barcamp gibt Hoffnung, zumindest, so man nicht versucht, nur unter sich zu bleiben. Bleibt also doch noch etwas Hoffnung.

Update 11:13, Entscheidung des Schiedsgericht noch präziser formuliert (danke, prisac)

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